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Am 30. Januar hat sich die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler zum 90. Mal gejährt. Aus diesem Anlass hatten die Kulturregion Frankfurt Rhein-Main und das Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg vergangene Woche zu einer Tagung im Schloss Johannisburg in Aschaffenburg geladen. Unter dem Titel „90 Jahre ‚Machtergreifung‘ in der Rhein-Main-Region“ befassten sich Historiker und Archivare mit der Frage, wie sich die Phase der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten auf lokaler Ebene und im öffentlichen Raum darstellte. Unter den Vortragenden war auch der Kelsterbacher Stadtarchivar Hartmut Blaum. Sein Referat „Kelsterbach: Macht-Transformation in einem kleinen, schwierigen Ort“ zeichnete die damaligen Geschehnisse in der Untermainstadt nach. Für Kelsterbach Aktuell beantwortet Blaum im Interview noch einmal die zentralen Fragen, denen er sich in seinem Vortrag widmete.
Welche Quellen geben Aufschluss über die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Kelsterbach?
Die Quellenlage, also die schriftliche Überlieferung aus den Jahren 1933 bis 1945, ist in Kelsterbach sehr dürftig. Auf Befehl des damaligen Gemeindebeigeordneten (Stellvertreter des Bürgermeisters) wurden um den 15. März 1945 sämtliche Parteiakten der NSDAP verbrannt, wie in vielen anderen Orten im Reich auch vor dem Einmarsch der Alliierten. Wir sind daher auf Zeitungsauschnitte angewiesen, auf Entnazifizierungsakten der Staatsarchive, die auch Aufschluss über die Geschehnisse nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 geben. Ansonsten haben wir einige Glücksfunde in den Kelsterbacher Gemeindeakten, so zum Beispiel eine Karte des „Russenlagers“ in den Anträgen für Gastwirtschaften aus dem Ordnungsamt. Zeitzeugen gibt es nicht mehr.
Wie waren die politischen Kräfteverhältnisse 1933 in Kelsterbach?
Kelsterbach war genau wie Mörfelden eine „rote Hochburg“, das heißt, dass während der Zeit der Weimarer Republik rund 70 Prozent der Wähler SPD und auch später vermehrt die KPD wählten. Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 holte die NSDAP in Kelsterbach nur 731 Stimmen, auf die SPD entfielen 960, auf die KPD gar 1.108 Stimmen. Das Zentrum zog 202, die DVP (Liberale) zwanzig Wähler. Bei der schon unter NS-Gewalt stattgefundenen Reichstagswahl am 5. März 1933 holte die NSDAP in Kelsterbach 1.036 Stimmen, aber 2.268 Wähler stimmten für eine andere Partei. Fazit aus den Wahlergebnissen: Die NSDAP hatte es im „roten Kelsterbach“ mit seiner SPD-Tradition schwer, Fuß zu fassen. In den Glanzstoffwerken, in denen 1929 bis zu 2.500 Menschen arbeiteten, hatten die KPD und die Gewerkschaften eine starke Basis.
Wie viele Mitglieder der NSDAP sowie von SA und SS gab es 1933 in Kelsterbach?
Angestrebt hatte die NSDAP reichsweit eine Mitgliederzahl von zehn Prozent der Bevölkerung. Bei einer reichsweiten Erhebung im Jahr 1939 wurden in Kelsterbach 408 NS-Mitglieder gezählt. Bezogen auf die Bevölkerungszahl von rund 5.000 waren das etwa fünf Prozent. Kelsterbach blieb ein schwieriges Pflaster für die NS-Partei und ihre Gliederungen. Nur 41 NS-Mitglieder waren Hitler schon vor der Machtergreifung am 30. Januar 1933 zugetan, nur ein „Alter Kämpfer“ aus dem Jahr 1926 trug das Goldene Parteiabzeichen mit der NS-Nummer 35.400. SA-Mitglieder gab es 27, im SS-Sturm in Höchst waren zwanzig Kelsterbacher organisiert.
Gab es am 30. Januar 1933 oder kurz darauf in Kelsterbach Reaktionen auf die Kanzlerschaft Hitlers?
Die Wahlkämpfe dieser Zeit wurden mit einer zunehmenden Brutalität und Schlägereien entschieden, gekämpft wurde auf der Straße, auf dem „Dalles“, dem späteren „Horst-Wessel-Platz“, also der heutigen „Friedrichshöhe“. Da flogen die Fäuste und die Fetzen. Kurz nach dem 30. Januar 1933 und der Machtübernahme feierte die NSDAP-Ortsgruppe Kelsterbach den Sieg mit einem großen Fackelzug, SPD-Mitglieder und KPD-Funktionäre wurden verhaftet und schikaniert. Bücher, Fahnen und Schriften wurden auf dem Marktplatz verbrannt. Bemerkenswert: Noch am 30. Januar 1933 organisierten die Kommunisten eine Demonstration in Kelsterbach gegen Hitler und die NSDAP. Der gemeinsame Hass gegen die NS-Partei führte aber nicht zu einem wirklichen Zusammengehen von Mehrheits-SPD und russisch geprägter, weltrevolutionärer KPD, im Gegenteil.
Wie ging die Übernahme der Ämter in den politischen Gremien und in der Gemeindeverwaltung Kelsterbachs durch die Nazis vonstatten?
Bürgermeister Johann Hardt, seit 1901 für die Bürgerlichen im Amt, musste sein Amt am 28. April 1933 niederlegen. Am 2. Mai trat der SA-Führer Karl Bamberger das ehrenamtliche Bürgermeisteramt an. Da sich die Groß-Gerauer Beamtenschaft mit Treue zum Führer bekannte, ging der Umbruch in den Verwaltungen recht ruppig, aber flott vorstatten. Der Kelsterbacher Schuldiener und SPD-Vorsitzende Georg Wagner wurde entlassen, die eigenen NS-Freunde wurden auf breiter Linie nun protegiert. Es regierte nur noch die NS-Fraktion unter ihrem Führer Ludwig Bersch im „Schloss“. Sie vereidigte auch den neuen Bürgermeister. Der Gemeinderat bestand nur noch aus NS-Mitgliedern und einem „Feigenblatt“, einem Gemeinderat aus Reihen des katholischen Zentrums.
Wann und in welchem Maße setzten Repressionen der Nazis gegen Linke oder sonstige Gegner des NS ein?
Sofort nach dem 30. Januar setzte die Repression gegen alle die ein, die nicht zur NSDAP gehörten. In erster Linie betraf das die SPD, aber auch die KPD, die AOK, den Stahlhelm, den Rotfrontkämpferbund, den Radfahrverein „Frisch Auf“, den Gesangverein „Germania“ oder die „Freien Turner“. Die Freireligiöse Gemeinde wurde 1935 verboten, bis 1938 erfolgte eine breite Gleichschaltung der Gemeindegesellschaft.
Gab es besondere lokale Faktoren, die die Nazis für sich nutzbar machen konnten?
Die NS-Partei hatte es in Kelsterbach nicht leicht. Aber die Arbeitslosigkeit in der Glanzstoff, die Hoffnungslosigkeit bei den Kelsterbachern sorgte dafür, dass sich die NSDAP relativ geräuschlos nach der Machtübernahme ausbreiten konnte. Eine kleine Gruppe machte sich breit und transferierte alle Macht, die Kelsterbacher Mehrheit blieb indifferent, teils ablehnend und hoffte auf einen wirtschaftlichen Aufschwung.
Wie gestaltete sich die Okkupation des öffentlichen Raums durch die Nazis?
Für den Menschen des Jahres 2023 ist das schwer greifbar. Die Menschen der Zeit um 1933 gingen (kein Fernsehen, wenig Radio – seit 1923 – und kein Internet) auf die Straße, in die Wirtschaften, auf Versammlungen und in Vereine. Die Menschen zogen hinter Musikkapellen her, standen vor Litfaßsäulen, lasen Zeitung, diskutierten heftig. Die NS-Partei stellte eine unglaubliche Öffentlichkeit her mit immer neuen Festen und Aufmärschen und Beflaggungen. Der Führer „schenkte“ dem Volk zum Beispiel den „1. Mai“ als Feiertag. Man würde das Kelsterbach des Jahres 1933 heute kaum wiedererkennen, vor allem emotional. Alles ging 1933 so ein wenig unter im Taumel der neuen Volksgemeinschaft; und wer nicht spurte, wurde schärfstens verfolgt oder ermordet.
Warum gab es vergleichsweise wenig Widerstand gegen die Machtübernahme der Nazis im bis dahin politisch von KPD und SPD geprägten Kelsterbach?
Wer, ja wer, stellt sich angesichts realer Gewalt tatsächlich dagegen? Wir Menschen des Jahres 2023 sollten uns hüten, zu arglos die „tatenlosen“ Menschen des Jahres 1933 zu verurteilen mit „Warum habt ihr denn nichts gemacht?“. Im Angesicht der herrschenden Gewalt, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Wohnungsnot und der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit muss man als Historiker von den Verhältnissen 1932/33 aus denken, nicht umgekehrt. Nicht jeder taugt wirklich zum Helden, wenn es vom Stammtisch weg geht in den konkreten Widerstand. Verzeihung, aber Maulhelden gibt es stets viele, Handelnde, die ihr Leben riskieren, wenige. Die „Tiefe der deutschen Seele“ muss man zudem ausloten, wenn man das heute verstehen will. Verlorener Weltkrieg, Kriegsschuld, kein Kaiser mehr, Reparationen, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, nichts hatte mehr Bestand. Und die Nazis waren jung, geprägt vom Fronterlebnis des Weltkrieges, gewaltbereit, roh, ungebärdet und laut. Sie sprachen nicht nur „Man müsste mal!“, sie taten, mit jeder Konsequenz. In der Glanzstoff hielt sich der Widerstand bis 1935, dann klappte er zusammen. Zum Widerstand gehörten Wendelin Scherer (SPD) und Johann Spahn (Kommunist, KPD). Jürgen W. Falter sagt in seinem Buch „Hitlers Parteigenossen“ von 2020: Die NS-Partei hatte einen großen Rückhalt in der ganzen deutschen Gesellschaft. „Sie war männlich und jung, familiär gebunden, vor allem evangelisch, kam aus allen Berufen und sozialen Schichten und hatte einen großen Rückhalt im Volk.“ Aber das führt nun zu weit. Der 30. Januar 1933 war kein „Betriebsunfall“ (Fritz Fischer), er hatte vielfältige Gründe und führte – in den Abgrund! Die Demokratie von Weimar war von Anfang an nicht zum Scheitern verurteilt. Sie hatte aber mit ungeheuren Belastungen zu kämpfen, die ihr angelastet wurden. Demokratie weiß nur der wirklich zu schätzen, der sie nicht mehr hat.